Im Porträt Weggegeben mit 5 Jahren – über die Scham, ein Pflegekind zu sein
Standdatum: 6. März 2023.
Ralf Lengen war fünf Jahre alt, als seine erste Mutter ihn in eine Pflegefamilie gab. Seine neuen Eltern erlebte er als gute Ersatzeltern – trotzdem hat er jahrzehntelang nicht darüber sprechen können, dass er nicht "gewollt" war. Die Scham war zu groß.
Die Stadt Bremen hat Ralf Lengen lange gehasst. Ein bis zwei Mal im Jahr fuhr er mit seinen Pflegeeltern aus Oldenburg hierher, um seine leibliche Mutter zu besuchen: "Diese Besuche erinnerten mich daran, dass ich nicht so war wie meine Freunde", so Lengen. "Es erinnerte mich an die Wunde, verlassen worden zu sein von meiner Mutter – und damit wollte ich nichts zu tun haben."
Über Nacht zu Wildfremden
1973 hatte Ralf Lengens Mutter mit einer Kleinanzeige in der Nordwestzeitung nach Pflegeeltern für ihren Jungen gesucht. Sie wollte sich nach ihrer Scheidung von Lengens iranischem Vater in Bremen ein neues Leben aufbauen. Von einem Tag auf den anderen musste der Fünfjährige mit fremden Menschen klarkommen. Notgedrungen passte er sich schnell an, nannte seine Pflegeeltern schnell "Mama" und "Papa": "Was machst du, um zu überleben? Du bist ja jetzt abhängig von diesen beiden."
Als Pflegekind wissen Sie ja nicht: Vielleicht kommen Sie auch zurück?
Ralf Lengen über seine Unsicherheiten als Kind
Zu seiner "ersten Mutter", wie Ralf Lengen seine leibliche Mutter heute nennt, hielt die Familie Kontakt. Doch wie er sie ansprechen sollte, wusste Lengen nicht. Die Anrede "Mama" kam ihm nicht mehr über die Lippen: "Als Pflegekind wissen Sie ja nicht: Vielleicht kommen Sie auch zurück? Vielleicht wird sie mir dann böse sein, dass ich ihr nicht loyal gegenüber war?" In seiner Verzweiflung nannte der kleine Ralf seine leibliche Mutter bei den Besuchen in Bremen einfach nur "Du". Und diese Loyalitätskonflikte haben Ralf Lengen Zeit seines Lebens geprägt: "In meiner Ehe, aber auch in meinen sonstigen Beziehungen, war ich oft der Angepasste. Ich habe versucht, es den anderen recht zu machen."
Ich schäme mich dafür, dass meine Mutter mich nicht gewollt hat.
Ralf Lengen über die Scham, ein Pflegekind zu sein
In seiner Pflegefamilie in Oldenburg hat Ralf Lengen eine schöne Kindheit erlebt. Trotzdem hat er mit seinen Eltern, die ihn später auch adoptiert haben, jahrzehntelang nicht über seinen "Status" als Pflegekind gesprochen. In den letzten Jahren hat Lengen oft über das Schweigen nachgedacht und ist zu einer traurigen Erkenntnis gekommen: "Ich schäme mich dafür, dass meine Mutter mich nicht gewollt hat. (...) Ich bin noch nicht mal gut genug für meine eigene Mutter gewesen." Das laut auszusprechen war bei den ersten Malen sehr schmerzhaft für Lengen.
Der Platz für seine Mutter bleibt unbesetzt
Heute ist es für den 55-Jährigen befreiend, über seine Geschichte zu reden. Er ist verheiratet, hat selbst vier Kinder und hat die Familie seines Vaters im Iran besucht. Das Verhältnis zu seinen zwei Müttern ist aber bis heute schwierig, sagt Lengen. Der Platz für seine Mutter bleibt in seinem Leben quasi unbesetzt: "Einmal tut es mir leid für Mama, also für meine Adoptiv-Mutter, weil ich erst im Nachhinein gemerkt habe, dass ich mir ihr nie so geöffnet habe. Ich war immer so ein Papa-Kind. Und der Platz ist deswegen unbesetzt, weil meine erste Mutter diesen Platz auch nicht mehr einnehmen kann. Sie hat mich weggeben".
Verständnis haben heißt nicht 'einverstanden sein'.
Ralf Lengen über die Entscheidung seiner Mutter, ihn in eine Pflegefamilie gegeben zu haben
Zu seiner ersten Mutter hatte Ralf Lengen als Teenager den Kontakt abgebrochen, inzwischen sind beide wieder im Kontakt. Lengen hat sogar Verständnis für ihre damalige Situation, sagt aber auch: "Ja, ich habe ihr verziehen. Aber: Verständnis haben heißt nicht 'einverstanden sein'. Ich habe Verständnis dafür, dass sie mich weggegeben hat. Ich sehe ihre Situation. Ich habe vergeben und kann das verstehen – und zugleich bin ich nicht einverstanden."
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 6. März 2023, 18:05 Uhr