Frauengeschichte(n) aus der Region Wie Ruth Müller als Textilarbeiterin für ihre Kolleginnen kämpfte
Standdatum: 23. August 2024.
Die Arbeit bei der sogenannten Nordwolle in Delmenhorst war ein Knochenjob. Vor allem Frauen mussten sich ins Zeug legen - Ruth Müller war eine von ihnen.
Bei Hochbetrieb ist es laut, staubig und heiß in den Fabrikhallen der norddeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei. An den großen Maschinen stehen in den 1960er-Jahren Männer und Frauen aus aller Welt, die hier im Akkord Wolle verarbeiten. Ein schwerer Job, der die Menschen belastet – nicht nur wegen der nötigen Muskelkraft, sondern auch wegen der schlechten Luft in den Produktionshallen.
Eine von ihnen ist in den 1960er-Jahren Ruth Müller (1922 - 2008). Sie wird im damals deutschen Schlesien geboren, ihre Eltern sind Gastwirte. Mit 19 Jahren kommt sie das erste Mal nach Delmenhorst, arbeitet hier während des Zweiten Weltkrieges bei einem Flugzeugbauer als Schweißerin. 1942 heiratet sie, kurz danach kommt ihre erste Tochter auf die Welt. Mit 25 Jahren arbeitet Ruth Müller zum ersten Mal in der Norddeutschen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei, kurz "Nordwolle" genannt. Die Fabrik war im Jahr 1884 gegründet worden, in der Hochzeit arbeiten hier 4.000 Menschen.
Arbeit im Akkord ist an der Tagesordnung
Industriejobs sind im Nachkriegsdeutschland zunächst für Frauen nicht ungewöhnlich – Arbeiter fehlen, die Wirtschaft muss angekurbelt werden. Doch die Station in den Fabrikhallen ist kurz, ihr Mann bekommt einen Job in Bottrop, Ruth Müller folgt ihm und konzentriert sich auf Haushalt und Kinder.
Aber 1960 kommt die Familie nach der Geburt der zweiten Tochter zurück – und jetzt beginnt Ruth Müllers Karriere in der Nordwolle erst richtig. Sie durchläuft fast alle Abteilungen der Fabrik und bemerkt schnell: Textilarbeiterin ist ein Knochenjob, sie bekommt schnell Probleme mit den Augen. "Die Frauen und Männer, die hier auf der Nordwolle mussten körperlich harte Arbeit leisten, da sie auch im Akkordlohn tätig waren", erklärt Maike Tönjes. "Das heißt, man wurde nicht nach der Stundenzahl, die man gearbeitet hat, bezahlt, sondern eben nach der Leistung, die man produziert hat, zum Beispiel nach dem Gewicht des Organs, das man produziert hat."
Große Belastung für die Gesundheit
In den Produktionshallen war wegen der Schafwolle, die verarbeitet wurde, viel Staub in der Luft. Zudem war es sehr heiß. "Es waren immer so ungefähr zwischen 22 und 23 Grad und dazu eine Luftfeuchtigkeit von circa 70 Prozent, damit die Fäden eben der Schafwolle in der Produktion nicht rissen", sagt Maike Tönjes. "Und da war man eben einer großen gesundheitlichen Belastung ausgesetzt."
Die Männer und Frauen müssen im Schichtdienst arbeiten, müssen manchmal gleichzeitig fünf Maschinen bedienen. Am Ende des Tages ist ihre Haut wegen des Staubes oft komplett grau. Aber nur die Arbeiterinnen bekommen deshalb einen Spitznamen: Wollmäuse. Die Frauen empfinden die Verniedlichung als Beleidigung, sagt Maike Tönjes: "Sie haben es so empfunden, als wäre ihre harte körperliche Arbeit, die sie hier an den Maschinen verrichtet haben, dadurch einfach untergraben und nicht beachtet worden.“
Eine resolute Frau
Zusätzlich werden die Frauen oft in Leichtlohngruppen eingeteilt - und das, obwohl sie genau die gleiche Arbeit machen wie die männlichen Kollegen. Trotzdem bekommen sie durch diese Eingruppierung weniger Geld. Ruth Müller passt das gar nicht, also handelt sie: Schon nach drei Jahren in der Fabrik lässt sie sich für den Betriebsrat aufstellen, bleibt dort viele Jahre aktiv. "Ruth Müller wird immer von den Menschen, die sie hier erlebt haben und gekannt haben, als sehr resolute Frau beschrieben", sagt Maike Tönjes.
In den 70er-Jahren geht die Nachfrage bei der Nordwolle zurück, die Textilproduktion wird immer mehr ins Ausland verlagert. Die Aufträge brechen ein, 1983 schließlich wird der Standort geschlossen. Zur gleichen Zeit geht Ruth Müller in Rente. Aber sie bleibt der Nordwolle erhalten, obwohl die Produktionsmaschinen stillstehen. Sie engagiert sich dafür, dass in den alten Fabrikhallen ein Industriemuseum entsteht – nach dessen Gründung gibt sie Führungen und berichtet von ihren Erfahrungen als Textilarbeiterin. Bis ins hohe Alter zeigt sie Kindern und Erwachsenen, was sie und ihre Kolleginnen geleistet haben – und dass sie mehr waren als Wollmäuse.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, 24. August 2024, 13.40 Uhr