Die regionale Reportage Bremerhaven: Historischer Gezeitenrechner restauriert
Standdatum: 23. November 2020.
Was heute in Sekunden funktioniert, war vor 100 Jahren nicht so leicht. Seeleute brauchten damals Tage, um die Gezeiten zu errechnen. Eine richtige Errungenschaft war es deshalb, als 1915 der erste analoge Computer in Deutschland gebaut wurde, der Ebbe und Flut bestimmen kann. Dieser historische Gezeitenrechner steht im Deutschen Schifffahrtsmuseum Bremerhaven und wurde jetzt für 50.000 Euro aufwändig restauriert.
Seit Jahrzehnten steht der älteste deutsche Gezeitenrechner in der Ausstellung im Deutschen Schifffahrtsmuseum. Er blieb aber ungenutzt und verstaubte. Die tausenden Einzelteile ließen sich nicht mehr bewegen.
Doch Restaurator Tim Lücke hat den Rechner wieder zum Laufen gebracht. Das sei eine große Herausforderung gewesen erzählt er, denn es gab keinerlei technische Unterlagen für diese komplexe Maschine. Seit Sommer 2019 hat Tim Lücke an der Maschine gearbeitet, hat jedes der vielen Zahnrädchen und Getriebe abgebaut, gereinigt, geölt und wieder zusammengebaut. Den gelernten Feinmechaniker hat die Restaurierung von Anfang an begeistert.
Es hat mich einfach sehr gereizt, diese Herausforderung anzugehen. Obwohl ich so ein komplexes Objekt auch noch nie in den Händen gehalten habe.
Tim Lücke, Restaurator des Gezeitenrechners
Die Technik ist deshalb so komplex, weil auch die Berechnung von Ebbe und Flut es ist. Gravitation von Mond und Sonne sind zwei der vielen Faktoren, die dafür wichtig sind. Der britische Physiker William Thomson erkannte Ende des 19. Jahrhunderts, dass eine analoge Maschine den Rechenvorgang übernehmen kann. Was von Hand Tage dauerte, schafft ein Gezeitenrechner in Stunden. Eine technische Sensation, erklärt Historiker Martin Weiss vom Deutschen Schifffahrtsmuseum, denn mit dem Aufkommen der Dampfschifffahrt konnte man zeitgenau in Häfen einfahren.
Ohne Ersten Weltkrieg hätte es diese Maschine so nicht gegeben.
Martin Weiss, Historiker am Deutschen Schifffahrtsmuseum
Mit Beginn des Ersten Weltkriegs bricht das weltweite Netzwerk zum Austausch von Gezeiten-Informationen zusammen. Deutschland braucht die Daten aber – und baut deshalb 1915 einen eigenen Rechner. Martin Weiss: "Ohne Ersten Weltkrieg hätte es diese Maschine so nicht gegeben, vielleicht später. Die Maschine wird in Potsdam gebaut, danach nach Wilhelmshaven gebracht. Es wird aber geheim gehalten, dass sie da steht."
Als der Rechner ausgedient hat, kommt er in den 1970er Jahren in das Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven. Dort versucht man bis heute alle Einstellungen zu verstehen. Bekannt ist: In jedes der 20 Rädchen wurde eine Kosinus-Funktion einprogrammiert. Jede Funktion nähert sich einem Aspekt der Berechnung an, etwa der Mondgravitation. Wird die Handkurbel betätigt, setzen sich die Räder in Gang, ein Band addiert alle Bewegungen und am Ende zeichnet ein Stift die Gezeitenkurve auf das Papier. Mit modernen Apps kann der Gezeitenrechner allerdings nicht mithalten, sagt Weiss: "Das Problem ist, dass so viel Verschleiß ist, dass die Genauigkeit offensichtlich gelitten hat. Und wir müssen noch viel über die Einstellungen selbst lernen."
Der Bedeutung für die Nachwelt tut das aber keinen Abbruch. Wer das frisch restaurierte Räderwerk besuchen will, muss sich allerdings noch gedulden. Die Vitrine gegen neuen Staub und Schmutz ist noch in Arbeit. 2021 ist der Gezeitenrechner bei monatlichen Vorführungen im Schifffahrtsmuseum zu bestaunen.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Vormittag, 24. November 2020, 11:40h.