Im Porträt Holocaust-Überlebende Inge Berger aus Bremen verliebte sich im Ghetto
Standdatum: 24. Juni 2024.
Inge Berger erlebte in der Bremer Neustadt den Terror der Gestapo und des NS-Regimes, bevor sie 1942 ins Ghetto Theresienstadt deportiert wurde. Am 24. Juni 2024 wird die Holocaust-Überlebende 100 Jahre alt.
Aufgewachsen ist Inge Berger als Inge Katz im Flüsseviertel in der Bremer Neustadt. In fast jeder Straße in der Nachbarschaft lebte ein Teil ihrer Verwandschaft. In der Delmestraße ging sie zusammen mit Cousine Ruthie zur Schule: "Zuerst habe ich in der Schule keine Schwierigkeiten gehabt. Wir, meine Cousine und ich, konnten an allem teilnehmen. Wir haben zusammen in der Schule gesessen, haben die Ausflüge zusammen unternommen – bis Hitler zur Macht kam. Da war das auf einmal vorbei." Inge und Ruth gingen regelmäßig zur Bremer Turngemeinde. Nach einer Weile wurde ihnen dort das Mitmachen verboten: "Das war für uns natürlich sehr traurig. Als Kinder konnten wir das ja nicht verstehen."
Die SS zertrümmerte, was nicht niet- und nagelfest war.
Inge Berger über die Reichspogromnacht 1938 am 6. Februar 2019 auf Bremen Zwei
Inge Bergers Vater Carl Katz war ein erfolgreicher Geschäftsmann, der für seine Verdienste im Ersten Weltkrieg ausgezeichnet wurde. In den dreißiger Jahren terrorisierte die Gestapo die Familie. Immer wieder erlebte die kleine Inge Hausdurchsuchungen, Gängeleien, Gewalt. "Wir waren machtlos, wir waren schutzlos", erinnert sich Inge Berger. In der Reichspogromnacht am 9. November 1938 erfuhr die Familie Katz am eigenen Leib, dass selbst ihr Zuhause sie nun nicht mehr schützen konnte: "In der Nacht vom 8. auf den 9. November stürmte die SS in unser Haus und zertrümmerte, was nicht niet- und nagelfest war. Es war furchtbar. Meine Großmutter bekam einen Ohnmachtsanfall – so etwas hatten wir nicht erwartet. Und dann hatte man meinen Vater mitgenommen, verhaftet. Er wurde in das Konzentrationslager Sachsenhausen geschickt.
Deportiert nach Theresienstadt
Der Vater kam frei, die Mutter klapperte Konsulate ab, um Ausreisemöglichkeiten zu finden. Derweil musste Inge Berger als Schneiderin gelbe Sterne auf Kleidung befestigen. Am 23. Juli 1942 wurde sie gezwungen, einen der Deportationszüge zu besteigen. Sie zog das neue Kostüm, das sie zum 18. Geburtstag bekommen hatte, an: "Wir konnten uns ja nicht vorstellen, wohin die Reise gehen wird. Wir haben die Stationen gesehen und auf einmal war da 'Tschechoslowakei'. Und der Zug fuhr weiter, weiter ins Land. Und der Zug hielt, die Station hatte ein Zeichen, da stand 'Bauschowitz'."
Es war einfach furchtbar. Unglaublich, dass man Menschen so etwas antun kann.
Inge Berger über ihre Zeit im Ghetto Theresienstadt am 6. Februar 2019 auf Bremen Zwei
Inge Berger wurde nach Theresienstadt gebracht – in leerstehende Häuser ohne Möbel, ohne fließendes Wasser und ohne Toilette. Die Großmutter starb nach zwei Wochen, weil das Gepäck mit den Medikamenten nie nachgebracht wurde. 40.000 Menschen lebten Ende 1942 in dem Ghetto. Viele Alte starben schnell durch Mangelernährung und wegen Krankheiten, die sich durch die katastrophalen hygienischen Zustände schnell verbreiteten: "Es war einfach furchtbar. Unglaublich, dass man Menschen so etwas antun kann. Ich kann mir das heute gar nicht mehr vorstellen, wie so etwas möglich ist. Dass Menschen einem so etwas antun können."
Eine Rose zum Abschied vom Liebsten
Im Ghetto lernte Inge Schmuel Berger kennen, einen jungen Tschechen, der in einer Bäckerei arbeiten musste. Seine Brotration teilte er mit Inges Familie. Eines Tages sollte er weiter deportiert werden – nach Auschwitz. Für eine Rose zum Abschied aus dem Garten eines Nationalsozialisten riskierte er sein Leben. Diese Rose hat Inge Berger aufbewahrt. Schmuel überlebte Auschwitz und Dachau abgemagert und krank. Wenn der Krieg noch länger gedauert hätte, hätte er nicht überlebt, ist sich Inge Berger sicher.
Meine Jugend hat man mir genommen – die konnte mir keiner wiedergeben.
Inge Berger über die Zeit des Nationalsozialismus am 6. Februar 2019 auf Bremen Zwei
Als der Krieg am 8. Mai 1945 endete, hatten Inge und ihre Familie in Bremen kein Zuhause mehr. Doch der Weg führte sie zunächst zurück. Im August stieg sie mit ihren Eltern auf einen Lastwagen in Richtung Hamburg, Freunde ihrer Eltern nahmen sie in Bremen auf. Am 1. Januar 1946 trafen sich Inge und Schmuel in der Georg-Gröning-Straße wieder. Doch die Vorbehalte gegen Juden waren nicht sofort aus der Nachkriegsgesellschaft getilgt. Inge Berger hatte nicht das Gefühl, in Bremen frei sagen zu können, dass sie Jüdin ist: "Als wir nach Bremen zurückkamen, war es eine andere Welt für mich. Die Erlebnisse, die ich damals als junges Mädchen erlebt habe, hatte ich so vor Augen, dass ich eine schwere Zeit hatte, mich wieder an die Menschen zu gewöhnen, die mir so viel angetan haben. Meine Jugend hat man mir genommen – die konnte mir keiner wiedergeben."
Inge und Schmuel Berger wollten frei leben. 1955 gingen sie nach New York, wo Inge Berger mit ihrer Familie im Stadtteil Queens lebt. Ihre Enkelin Elise Garibaldi hat die Geschichte ihrer Großmutter aufgeschrieben und unter dem Titel "Rosen in einem verbotenen Garten" als Buch veröffentlicht. Die Stadt Bremen hat inzwischen eine Schule in der Bremer Neustadt nach ihr benannt: Das Schulzentrum Neustadt trägt den Namen "Inge Katz Schule".
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 24. Juni 2024, 18:05 Uhr