Im Porträt Warum Johannes Erlemann nicht mit seinem Schicksal hadert
Standdatum: 24. April 2024.
Bis er elf Jahre alt war, wuchs Johannes Erlemann als Sohn eines Investors privilegiert und ohne Sorgen auf. Dann wurde er im März 1981 von drei Männern überfallen und entführt. Erst nach der Zahlung von drei Millionen D-Mark ließen ihn seine Entführer nach 14 Tagen wieder laufen. In seinem Buch "Befreit" erzählt Erlemann die Geschichte seiner verlorenen Kindheit.
Es war der 21. März 1981 als Johannes Erlemann in der Tagesschau zu sehen war. In einem weißen Bademantel stand er dort, während die Nachricht über seine Befreiung über die Bildschirme westdeutscher Wohnzimmern flackerte. Kurz zuvor hatten seine Entführer ihn auf freiem Feld freigelassen und er hatte es geschafft, sich ein Taxi zu nehmen und in die heimische Villa zurückzufahren: "Ich schaute durch die Fenster ins Wohnzimmer und plötzlich gingen überall die Scheinwerfer an."
Polizisten schnappten mich, zogen mich, zerrten mich ins Haus.
Johannes Erlemann über den Moment, als er nach seiner Freilassung zuhause ankam
Sofort richteten anwesende Polizisten ihre Waffen auf die Grundstücksgrenze. Johannes Erlemann wusste kaum wie ihm geschah: "Es kamen schwer bewaffnete SEK-Sondereinsatzkommando-Polizisten aus allen Ecken, schnappten mich, zogen mich, zerrten mich ins Haus. Und alle schrien: Keiner fasst den Jungen an!" Bevor seine Mutter ihn in ihre Arme schließen durfte, wurde dem damals 11-Jährigen Jungen die Kleidung vom Leib genommen. Splitterfasernackt stand er in der ganzen Szenerie bis sich ein Freund des Hauses durch die Polizisten gekämpft hatte und dem kleinen Johannes den weißen Bademantel überwarf, mit dem Erlemann schließlich in der Tagesschau zu sehen war.
Seine Entführer rissen ihn vom Rad
Erlemanns Vater Joachim-Georg, kurz Jochem, ist als Finanzinvestor reich geworden und hat den Eishockey-Club "Kölner Haie" bis zur Deutschen Meisterschaft geführt. Johannes Erlemann wuchs nicht nur im Kölner Villenviertel Hahnwald auf, sondern verbrachte viel Zeit am Mittelmeer in Saint-Tropez, in Südfrankreich oder einem Jagdschloss in den Tiroler Alpen. Eines Nachmittags wurde er von seinen Entführern, die auf eine Lösegeld-Erpressung aus waren, vom Fahrrad gerissen. "Dann haben sie mich in den Wald geschliffen, über Stock und Stein. Die Äste flogen einem durchs Gesicht. Und dann haben sie mir den Kopf zugeklebt, mit so einem Tape. Ich konnte kaum atmen, das war eine Katastrophe."
Irgendwann habe ich sie angeschrien: Ihr müsst was mit mir machen! Ich verrecke hier!
Johannes Erlemann über die Zeit, die er in einer Kiste verbringen musste
Die Entführer verschleppten Johannes Erlemann – gefangen in einer Kiste ohne Tageslicht – in eine einsame Hütte in der Eifel. Es war kalt, sie legten ihm Handschellen an, versenkten die Kiste im Boden. "Und dann verschwanden sie. Dann waren sie weg. Und dann war es ganz still." Es war eine "Sarg-ähnliche Situation", erinnert sich Johannes Erlemann heute. Die Stunden zogen sich in die Länge, kein Lichtschlitz drang in die Kiste: "Irgendwann habe ich sie angeschrien: Ihr müsst was mit mir machen! Ich verrecke hier!" Einer seiner Entführer hatte schließlich Erbarmen und kam mit Spielkarten zurück. Sie pokerten einige Tage – um die Taschenlampe des Entführers und die Halskette des kleinen Johannes. "Es war für mich eine Art Überlebensreflex."
Retraumatisierung durch die Ermittlungen
Während sein Vater Jochem Erlemann wegen Steuerhinterziehung in Haft saß, gelang es Erlemanns Mutter die Lösegeldsumme aufzutreiben und mit der Polizei eine erfolgreiche Übergabe einzufädeln. Die Kidnapper ließen den Jungen frei, doch das Ende der Entführung war nicht das Ende der traumatischen Erfahrungen, die Johannes Erlemann dann erlebte. Die Polizei jagte das Geld und die Täter – um das Opfer machte man sich Anfang der Achtziger nur wenige Gedanken. Nur einen Tag nach der Freilassung wollte ein Kinderpsychologe in einem vierstündigen Verhör alles Mögliche von dem damals 11-Jährigen erfahren, weil die Familie unter Verdacht stand, an der Entführung beteiligt gewesen zu sein.
Und dann bin ich zusammengebrochen. Das war zu viel für mich.
Johannes Erlemann über die Ermittlungen nach seiner Freilassung
Um die Tat zu rekonstruieren, wurde das Kind ein weiteres Mal in eine Kiste gesteckt und mit einem Wagen durch die Gegend gefahren. "Da sind die drei Mal zwanzig Minuten mit mir umhergefahren um am Ende zu fragen: War es ein Boxermotor, ein Diesel oder ein Benziner? Völlige Katastrophe eigentlich." Johannes wollte helfen, seine Entführer zu finden. Es folgten wochenlange Verhöre, Ortsbegehungen und am Ende eine denkwürdige Befragung vor der gesamten "Soko Erlemann". "Und der Leiter sagte: 'Wir haben uns das alles angehört, was du gesagt hast, und wir sind zu dem folgenden Schluss gekommen: Wir glauben dir kein Wort! Und jetzt sagst du uns die Wahrheit!'", erzählt Erlemann. "Und dann bin ich zusammengebrochen. Das habe ich nicht ertragen. Das war zu viel für mich."
Ich erinnerte mich an die ganzen Drohungen, dass sie mich erschießen werden.
Johannes Erlemann über den Moment im Gerichtssaal, wo er seine Entführer identifizieren sollte
Am Ende wurden die drei Täter dank des Phantombildes, das durch Erlemanns Beschreibungen angefertigt werden konnte, und wegen zurückgelassener Gegenstände bei der Lösegeldübergabe gefasst. Im Gerichtssaal traf er seine Entführer wieder und sofort kamen die Erinnerungen hoch: "Ich erinnerte mich an die ganzen Drohungen, dass sie mich erschießen werden, dass sie mich umbringen, mich überfahren und was sie alles wollten." Johannes brachte kein Wort mehr heraus – auch als der Richter ihn immer wieder und immer lauter aufforderte, seine Peiniger anzusehen. "Und das zwar der zweite Moment, wo ich weinend zusammen gebrochen bin. Und dann hab ich gesagt: 'Ja, den da hab‘ ich gesehen. Den da!‘ Das ist eine Sache, die macht mich heute noch sprachlos."
Seine Kindheit kam nie wieder zurück
Am Ende gab es zehn Jahre Haft für den Drahtzieher, zwei Mal acht Jahre für die anderen. Für die Justiz war der Fall damit abgeschlossen – für Erlemann selbst nicht. Die Presse verfolgte über Jahre jeden Schritt von ihm, fast 40 Jahre lang träumte er nachts von Mord und Totschlag. "Die Kindheit ist nie wieder zurückgekommen. Ich habe das Kind in der Kiste zurücklassen müssen."
Es sind einfach ein Haufen Antworten noch offen.
Johannes Erlemann auf die Frage, warum er seine Entführer noch einmal treffen möchte
In den letzten vier Jahren hat er seine Geschichte mit einem Spielfilm, der an den Originalschauplätzen gedreht wurde, einer Dokumentation und mit seinem Buch "Befreit", aufgearbeitet. "Damit habe ich mir eine Konfrontationstherapie verpasst, die ich selber gar nicht für möglich gehalten hätte." Inzwischen würde er seine Entführer sogar gerne zu einem Gespräch treffen. "Ich bin versöhnlich mit dem Thema. Es sind einfach ein Haufen Antworten noch offen, deren Fragen nie gestellt worden sind.“
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 24. April 2024, 18:05 Uhr