Im Porträt Kein Wohnsitz, aber Bahncard 100: Lasse Stolley lebt im Zug
Standdatum: 25. November 2024.
Lasse Stolley wacht jeden Morgen in einer anderen Stadt auf. Sein Alltag spielt sich zwischen Zugabteilen und Bahnsteigen ab, denn er hat sein Jugendzimmer gegen eine Jahreskarte der Deutschen Bahn eingetauscht. Der 18-Jährige schläft in Nachtzügen und genießt die Freiheit, jeden Tag entscheiden zu können, ob er an die Ostsee oder in die Berge fährt.
In einem 30-Liter-Rucksack hat Lasse Stolley alles dabei, was er braucht. Seine minimalistische Ausstattung besteht aus zwei Hosen, zwei Langarm-Shirts, vier T-Shirts, einer Decke und einem Nackenkissen für die Nacht. Dazu kommen eine Taschenlampe, Ladekabel, Kopfhörer, ein Laptop zum Arbeiten und eine Trinkflasche – mehr braucht er nicht: "Das ist für mich sehr befreiend. Ich hätte mir vorher nie vorstellen können, dass ich mit so wenig klarkomme."
Jeden Tag in eine andere Stadt
Wohin er fährt, entscheidet Lasse Stolley oft spontan direkt am Bahnsteig. "Dann steige ich einfach ein, ohne zu wissen, wo genau ich aussteige." So kommt er manchmal an die spannendsten Orte, während Verspätungen oder Ausfälle ihn nicht tangieren: "Dann fahre ich halt in die entgegengesetzte Richtung." Das Zähneputzen und Waschen erledigt er in DB-Lounges in großen Bahnhöfen. "Das sind die saubersten Toiletten im ganzen Bahnhof", schmunzelt er. Seine Wäsche wäscht er im Waschsalon oder per Hand und eine Dusche nimmt er in Schwimmbädern, die auf der Strecke liegen. "Ich habe mir eine Reihe von Stamm-Schwimmbädern zugelegt, wo ich öfter hingehe", erzählt er.
Für mich bedeutet mit der Bahn zu fahren Freiheit. Die Freiheit, jeden Tag neu entscheiden zu können.
Lasse Stolley über das Glück, so zu leben, wie er möchte
Ankommen gehört nicht zu seinen Zielen. "Eigentlich ist es eine durchgehende Reise", sagt Stolley über seinen aktuellen Lebensentwurf: "Für mich bedeutet mit der Bahn zu fahren Freiheit. Die Freiheit, jeden Tag neu entscheiden zu können: Wohin will ich fahren?" Unterwegs schaut er sich Städte an, trifft sich mit Freunden oder arbeitet in einer DB Lounge. Auf Instagram teilt er seine Eindrücke, führt ein digitales Tagesbuch und schreibt einen Newsletter. Die Idee von einem klassischen Karriereweg mit Abitur, Studium und 40 Jahren Arbeit ist für ihn aktuell ein ferner Gedanke: "Es ist mir wichtig, den Leuten zu zeigen: Es gibt viele verschiedene Sachen, die man aus seinem Leben machen kann."
Am Laptop wird gearbeitet
Der Preis, den er dafür zahlt, sind rund 7700 Euro für die Bahncard 100 in der ersten Klasse. Dafür muss der 18-Jährige Schleswig-Holsteiner aus der Nähe von Rendsburg keine Miete zahlen und darf in den Premium-Lounges der DB kostenlos essen und trinken. Sein Geld verdient er als Software-Entwickler. Die Programmierskills hat er sich während der Corona-Zeit selbst beigebracht: "Mit fünfzehneinhalb habe ich bei einem Kölner Start-Up angefangen und hab dann zweieinhalb Jahre lang eine Freizeitpark-App entwickelt." Zum 18. Geburtstag hat er sich nun selbstständig gemacht und arbeitet im Zug und in der DB Lounge, wenn das Bord-WLAN wieder einmal nicht so stabil ist.
Dann kam eine Person rein, die eine Thunfisch-Dose nachts im Abteil aufgemacht hat.
Lasse Stolley über merkwürdige Begegnungen während seines Bahnlebens
Anfangs war noch in der 2. Klasse unterwegs, die er trotz des Komforts, den er heute genießt, manchmal vermisst: "Seitdem ich in der ersten Klasse unterwegs bin, habe ich viel wenige der interessanten Gespräche, die ich früher in der zweiten Klasse hatte. Die Leute waren auch viel kommunikativer. Die Geschäftsreisenden wollen eher arbeiten und haben wenig Lust, sich zu unterhalten." Trotzdem hat er schon eine riesige Bandbreite an Menschen getroffen. Vom prominenten Politiker bis hin zu einer unangenehmen Erscheinung nachts im Abteil: "Dann kam eine Person rein, die super komisch war und die eine Thunfisch-Dose nachts im Abteil aufgemacht hat. Da kann man sich den Geruch vorstellen und da war es mit dem Schlaf auch vorbei. Also es gibt die komischsten Leute in der Bahn."
Wie eine echte Freundschaft entstand
Die meisten Begegnungen sind aber positiv, so Stolley. Gleich zu Anfang seiner inzwischen über zwei Jahre andauernden Bahnreise hat er einen knapp über 60-jährigen Mann kennengelernt, der ebenfalls die Züge sein Zuhause nennt. Mit ihm hat Stolley eine sehr intensive Freundschaft aufgebaut. Manchmal reisen sie nur wenige Stunden zusammen, manchmal mehrere Tage am Stück. Interessanterweise haben die beiden keinen digitalen Kontakt: "Das Tolle ist, dass wir uns immer zufällig begegnen. Wir treffen uns an irgendeinem Bahnhof in Deutschland oder in einem Zug."
Für mich ist es das Beste, was ich mir aktuell vorstellen kann.
Lasse Stolley auf die Frage, wie lange er noch auf der Schiene leben möchte
Eigentlich wollte Stolley nur ein Jahr unterwegs sein. Inzwischen hat er 33 Länder bereist und rund 700.000 Bahnkilometer auf dem Tacho. Weil der Wunsch nach Dusche, Klo und Sesshaftigkeit bisher nur in seltenen Momenten aufgetaucht ist, befindet sich Stolley nun schon in seinem dritten Zug-Jahr. Alle vier bis fünf Wochen macht er einen Stop-Over bei seinen Eltern und schläft auch einmal eine Nacht in einem richtigen Bett. Irgendwann, das weiß er, wird er in eine Wohnung oder ein Haus ziehen. Nur den Zeitpunkt kennt er heute noch nicht: "Das Leben im Zug ist nicht immer nur einfach, es ist teilweise auch sehr herausfordernd. Aber für mich ist es das Beste, was ich mir aktuell vorstellen kann."
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Gesprächszeit, 25. November 2024, 18:05 Uhr