Auf der Bühne "Die Ärztin" in Oldenburg: Weiße Person spielt Schwarze Rolle
"Die Ärztin" im Staatstheater Oldenburg
Standdatum: 27. November 2023.
Hautfarbe, Geschlecht, Konfession oder Beruf – was macht die eigene Identität aus? Im Stück "Die Ärztin" von Robert Icke, das im Oldenburgischen Staatstheater Premiere feierte, werden diese Fragen diskutiert. Die drängenste von allen: Welche Bedeutung hat die Religionszugehörigkeit?
Worum geht es?
Das Stück behandelt die jüdische Ärztin Ruth Wolff, Leiterin einer renommierten Alzheimer-Klinik, und den Tod eines 14-jähriges Mädchens. Dieses landete infolge einer selbst durchgeführten Abtreibung in der Notaufnahme. Kurz vor dem Tod der Patientin trifft ein Pfarrer ein, um ihr die letzte Ölung zu geben. Die Ärztin verwehrt ihm allerdings den Zutritt ins Zimmer der sterbenden Patientin. Zum einen aus medizinischen Gründen, zum anderen, weil es in der Akte des Mädchens keinen Hinweis auf ihre Religion gibt.
Es stehen zwei Fronten gegeneinander: Die Ärztin will das Mädchen vor unnötigen Störungen bewahren, der Pfarrer will ihr die letzte Ölung geben und eine Beichte abnehmen – denn in der katholischen Kirche ist eine Abtreibung immer noch eine Sünde. Die Ärztin hält den Pfarrer am Ende sogar körperlich davon ab, das Mädchen stirbt und der ganze Fall zieht eine Welle an Empörung nach sich, erst intern, dann auch öffentlich.
Was ist das Besondere an dem Stück?
"Die Ärztin" des britischen Autors Robert Icke wird in Oldenburg von Klaus Schumacher inszeniert. Als Vorlage diente Icke "Professor Bernhardi" von Arthur Schnitzler aus dem Jahr 1912. Anders als im älteren Original wird aus dem jüdischen Arzt eine Frau. Früher waren die Konfliktthemen klar: Kirche gegen Medizin, Christentum gegen Judentum. In Zeiten von Social Media und Identitätspolitik ist das nicht mehr so einfach: Hat die weiße jüdische Ärztin den schwarzen, katholischen Pfarrer auch wegen seiner Hautfarbe aufgehalten?
Was gab es zu sehen?
Das Bühnenbild besteht aus zwei Betonwänden, die sich überlappen und versetzt stehen, so dass man zwischen ihnen hindurch schlüpfen kann. Inmitten dieser grauen Wände sind eine Reihe von Fotos mit Gesichtern zu sehen, zusammengesetzt wie ein Mosaik, die wie ein Sinnbild für die Vielschichtigkeit einer Identität stehen könnten. Während der Dauer des Stückes, mit Zerfall der Hoffnung, Geduld und auch ein wenig der Rationalität von Ruth Wolff, kippen die Wände weiter nach vorne, bis sie am Ende ganz auf der Bühne liegen. Mit dem Fall der Leiterin des Instituts Ruth Wolff fällt auch das Institut.
Was sagt unsere Kritikerin?
Der Pfarrer sagt im Stück: "Jede Person ist eine ganze Stadt voller Menschen. Wir entscheiden, welche uns bestimmen." Ruth Wolff will einfach nur Ärztin sein, von Zuschreibungen "wie jüdisch sein", "Frau sein" will sie sich möglichst los machen als sehr rationaler Mensch. Auch die Besetzung im Stück spielt mit Identitäten: Frauenrollen werden von männlich gelesenen Personen gespielt, Männerrollen von weiblich gelesenen. Es irritiert im ersten Moment, in dem die Hautfarbe des Pfarrers erwähnt wird, weil man denkt "Warte mal, der war doch Weiß". Hätte ich als Zuschauerin die Szene anders betrachtet, hätte ich in ihm direkt einen schwarzen Mann gesehen? Diese Irritationsmomente haben mir gut gefallen und haben mich nochmal ganz anders über Identität grübeln lassen. Der unvorhergesehene, bewegende Ausgang lässt mich endgültig sagen: Dieses Stück sollte man gesehen haben.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 26. November 2023, 09:38 Uhr