Auf der Bühne Turandot, ein düsterer 20er-Jahre-Rausch in Bremerhaven
Standdatum: 16. September 2024.
Mit musikalischer Wucht ist das Stadttheater Bremerhaven in die neue Spielzeit gestartet. Philipp Westerbarkei inszeniert die Oper "Turandot" von Puccini als großen Rausch in den nicht ganz so goldenen zwanziger Jahren.
Worum geht es?
Die Prinzessin Turandot ist eine der spannendsten Figuren in Puccinis Opern – weil sie so anders ist. Oft haben die Frauen bei Puccini vor allem zwei Eigenschaften: Sie sind hingebungsvoll verliebt und bereit sich aufzuopfern. Turandot wird dagegen von ihren Untergebenen als "Eisprinzessin" bezeichnet. Jeder Mann, der sie heiraten möchte, muss drei Rätsel lösen. Wer scheitert, wird hingerichtet. Und da sind schon einige Köpfe gerollt. Der Grund für ihren Männerhass: Turandot ist tief traumatisiert. Eine ihrer Ahninnen wurde von einem Mann entführt und vergewaltigt. Das macht ihr jede Nähe zu einem Mann unmöglich. Bis eines Tages Prinz Calàf die drei Rätsel lösen kann. Allerdings: Wer mit einem "Sie-küssen-sich-und-alles-wird-gut-Ende" rechnet, wird im Stadttheater Bremerhaven überrascht werden – zum Glück.
Was gab es zu sehen?
Bei Puccini spielt die Geschichte in China in einer unbestimmbaren Märchenzeit. Regisseur Philipp Westerbarkei lässt das Stück aber in seiner Entstehungszeit – also in den 1920er Jahren – spielen. Im Bühnenbild sehen wir Art Déco mit schweren Samtvorhängen und einem langen, grünen Samtsofa. Alles ist düster – von den "goldenen Zwanzigern" ist nicht viel übrig. Man spürt viel mehr die Nähe zu zwei Weltkriegen. Die Kinder spielen mit Gewehren und zerfetzten Kuscheltieren.
Der Opernchor bricht immer wieder in wilde Tänze oder manisches Gelächter aus. Turandot erträgt das alles nur, weil sie sich auf dem grünen Samtsofa Drogen spritzt. Überhaupt passt die Turandot – gespielt von Agnes Selma Weiland – ganz hervorragend in diesen 20er-Jahre-Rausch. Puccini hat die Figur als männermordende Eisprinzessin angelegt. In der Bremerhavener Inszenierung wird sie dagegen richtig nahbar. Sie fühlt mit, ist aber gefangen in ihrem eigenen Schmerz.
Was sagt unsere Kritikerin?
Diese traumatisierte Turandot – angesiedelt in einem düsteren 20er-Jahre-Rausch – hat für mich total gut funktioniert. Ich fand es überraschend, der sonst oft nur als eiskalt dargestellten Frauenfigur einmal nahe zu kommen.
In den ersten beiden Akten war ich absolut mitgerissen von dieser Welt in den Zwanzigern mit den zerrissenen Figuren. Im dritten Akt hat das für mich etwas nachgelassen. Musikalisch war der Abend von vorn bis hinten überzeugend. Dirigent Marc Niemann hat das Orchester voll in dieses Rauschhafte reingleiten lassen. Trotzdem hatte Agnes Selma Weiland als Turandot genug Raum, um ihre dramatischen Sopran-Arien darüber singen zu können. Besonders ausgefeilt waren die Auftritte des Opernchors und des Kinderchors. Sie haben die zwanziger Jahre – mal ausschweifend, mal hysterisch – toll rübergebracht.
Dieses Thema im Programm: Bremen Zwei, Der Morgen, 15. September 2024, 09:38 Uhr